Das „Schicksal meistern“ mit dem Jenke-Experiment

Grafik: Rollstuhlfahrer-Bullshit-Bingo
Das Rollstuhlfahrer-Bullshit-Bingo, entwickelt von Laura Gehlhaar und Lorenz Meyer

Wenn Journalisten für die Recherche an Grenzen (auch die im Kopf) gehen und sich selbst so richtig in das jeweilige Thema begeben, ist das grundsätzlich ein guter Ansatz. Genau das tat nun auch Jenke von Wilmsdorff für sein aktuelles TV-Experiment. Für den Privatsender RTL stellte er sich die Frage, wie der Alltag von Rollstuhlfahrern aussieht.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, die Doku einfach nur zu gucken – ohne Twitter. Doch als Jenke dann das Rollstuhlfahrer-Bullshit-Bingo eröffnete, indem er die Frage stellte, ob Rollstuhlfahrer eigentlich Sex haben, konnte ich nicht mehr anders.

Foto: Screenshot eines Tweets von NaLos_MehrBlickUnd in meinen Augen setzte er kurz darauf auch noch einen drauf, indem er fragte:

Foto: Screenshot eines Tweets von NaLos_MehrBlickDa war ich dann anschließend nur noch wenig schockiert, als er Rollstuhlfahrerin Carolin nach ihren Stoffwechselprozessen fragte.

Später sollte Jenke von Wilmsdorff dann auch noch herausfinden, dass nicht jede Bahnstation in einer Großstadt wie Köln barrierefrei ist, und dass spontanes Verreisen mit der Deutschen Bahn für Rollstuhlfahrer nicht ohne Weiteres funktioniert. Er wirkte ernsthaft bestürzt. Wenn auch nur oberflächlich wurden also schon ein paar wichtige Punkte angekratzt.

ABER: Ein absolutes No-Go war in meinen Augen, die ausführliche Beleuchtung des Themas BIID (Body Integrity Identity Disorder, deutsch: Körperintegritätsidentitätsstörung). Gleich zwei Interviewpartner wurden hierzu ausgiebig interviewt und portraitiert. Sicher, das ist aus Sicht von RTL wahrscheinlich „spannend“ und „catchy“, bringt Quote. Aber das hatte in einer Doku zum Alltag von Rollstuhlfahrern definitiv nichts verloren.

Was mir ebenfalls nicht gefallen hat, war der generelle Ton der Doku. Es lief wieder viel über die SCHICKSALS-Schiene, die Rollifahrer mussten wieder LEIDEN und waren TROTZ ihrer Behinderung doch LEBENSFROH und führten sogar Beziehungen (in denen der Mensch mit Behinderung der schwache, dankbare Part und der ohne Behinderung der starke Part sei). Auch die Rollstuhlfahrerin Carolin sprach zwischendurch (leider) immer wieder von ihrem Schicksal, dass sie trotz Behinderung meistert.

Als sprachsensibler Fan von Leidmedien.de fragte ich mich also direkt, warum bei der Vorbereitung der Sendung scheinbar niemand auf die hilfreichen Tipps des Teams um Lilian Masuhr gestoßen ist. Über Facebook kam dann der berechtigte Einwand (Danke Ninia!), dass die Produzenten Leidmedien durchaus gesehen und wahrgenommen haben könnten, es allerdings ignoriert haben. Denn viele Fernsehmacher sind noch immer der Meinung, dass „die Zuschauer“ genau diese Mitleidschiene sehen wollen.
(Wie genau es war, weiß ich natürlich nicht.)

Doch was ist wohl hängengeblieben – gerade bei denen, die keinen so differenzierten Zugang zum Thema haben? BIID!? Urinieren auf Knopfdruck!? Hoffen wir, dass es dann doch mehr war…

Mein Fazit: Gute Ansätze (Daumen hoch für den Teil mit dem zehnjährigen Jungen, der ohne Beine zur Welt kam), aber viel Luft nach oben. Gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht.

(Danke an Frau Gehlhaar für das Rollstuhlfahrer-Bullshit-Bingo!)

Wie fandet ihr das Jenke-Experiment?


3 Gedanken zu “Das „Schicksal meistern“ mit dem Jenke-Experiment

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